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Jürgen Junglas

26. Rheinische Allgemeine Psychotherapietagung, Wesseling 16.6.2018

Es ist leichter, eine Lüge zu glauben, die man hundertmal gehört hat,
als eine Wahrheit, die man noch nie gehört hat.
Robert Staughton Lynd

Wir leben alle unter dem gleichen Himmel,
sehen aber nicht den gleichen Horizont.
Konrad Adenauer

Die Deutschen sind sich fremd.
Ulrich Wickert DER SPIEGEL 2.6.18

Workshop:

Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem was fremd erscheint und dem deutlich sichtbaren Wunsch nach vertrauter Heimat kann die psychotherapeutische Begleitung des modernen Menschen befruchten. Im Workshop sollen neue soziologische Theorien wie die Resonanztheorie (Rosa) oder die Vorstellung der Singularitäten (Reckwitz) reflektiert werden. Dabei scheint ein Rückbezug auf die Vorstellung vom Rahmen (Bateson) und die nachfolgend entwickelte Rahmenanalyse (Goffman) hilfreich um die gesellschaftliche und subjektive Konstruktion zu beleuchten.
Diskutiert werden soll auch, inwiefern die häufig genannten psychotherapeutischen Auswege aus Fremdenfeindlichkeit, wie z.B. Mentalisierung oder die Förderung der Empathie, hilfreich sind.

1       Die Rahmen-Analyse. 2

1.1         Erwing Goffman 1922-1982. 2

2       Etymologische (linguistische) Konstruktionen. 3

2.1         Fremd. 3

2.1.1          Fremdeln. 3

2.1.2          Der Fremde. 3

2.1.3          Entfremdung. 3

3       Soziologische Konstruktionen. 3

3.1         Elementargedanken und Völkergedanken. 4

3.2         Koevolution von Psyche und Gesellschaft. 4

3.3         Intuitive Überzeugungen (beliefs). 4

3.4         Religion „natürlich“, Wissenschaft unwahrscheinlich. 4

3.5         Resonanz; Hartmut Rosa *1965. 5

3.6         Singularitäten; Andreas Reckwitz *1970. 6

3.7         Heimat. 6

4       Psychotherapeutische Rahmen. 6

4.1         Das Thomas-Theorem.. 6

4.2         Mentalisieren und Rahmen-Analysen. 6

4.3         Empathie. 7

5       Quellen. 7

 

 

 

1         Die Rahmen-Analyse

1.1       Erwing Goffman 1922-1982

Hettlage referiert das Denken von Goffman wie folgt: „Die Erfahrung der Handelnden ist... auch eine der grundsätzlichen Fremdheit im Prozess der Interaktion: Jeder Handelnde ... befindet sich in einer ergebnisoffenen, überraschenden und daher auch riskanten und „bedrohlichen“ Situation, wenn er mit anderen zusammentrifft. Um diese Situation des unbekannt Seins auszuloten ...(bezieht sich Goffman) ... auf die soziale Figur des Fremden der durch das Zusammenspiel von Ferne und Nähe, Gelöstheit und Fixiertheit, Wanderung und „Bodenhaftung“ gekennzeichnet ist. ... Diese Doppeldeutigkeit und Wechselwirkung überträgt Goffman auf Bewegungssituationen überhaupt.“ (Hettlage, 2007, 5.)

Goffman übernahm den Begriff des „Rahmens“ (engl. Frame) von Gregory Bateson der in seiner Theorie des „double bind“ diesen Begriff dazu nutzte um in einer bestimmten Situation unterscheiden zu können, ob ein Tun ernsthaft, ironisch oder eine bloße Vorstellung ist. In seinen „Rahmen-Analysen“ verfolgt er das Ziel, aus den unmittelbar vorgegebenen  erlebten Szenen alltäglichen Verhaltens jene Rahmen für das Verstehen zu erarbeiten, die dem Handelnden verfügbar sind, um sein Tun einen Sinn zu geben (Goffman, 2016, 9. orig. 1974). Goffman setzte sich unter anderem mit Alfred Schütz[1] auseinander, der zeigte, dass wir keinen direkten Zugang zu andermenschlichen Erfahrung haben können, also fremde Erlebnisse schlussfolgernd aus den Zeichen und Ausdrucksformen des fremden Leibes ermitteln müssen (Hettlage, 2007, 5.). Größte Nähe schlage in Entfremdung um, wenn man die Regeln des Umgangs und der Interpretation nicht beherrsche. Rahmungen werden aktiv erzeugt, wir sind alle Techniker der Wirklichkeit. Zur Erfassung der Wirklichkeit bedarf es besonderer Schlüssel und metakommunikativer Fähigkeiten. Wir verwenden sehr viel Energie darauf die ontologische Unsicherheit durch Rahmenanalyse und Ritualisierung zu überwinden.

In der Psychiatrie und Psychoanalyse haben ähnliche Überlegungen zum Begriff der „Als-ob-Persönlichkeit“ bei Helene Deutsch und zur Entwicklung einer symboltheoretischen Psychopathologie bei Alfred Lorenzer geführt (Andersch, 2018).

2         Etymologische (linguistische) Konstruktionen

2.1       Fremd

Das Wort leitet sich aus dem gemeingermanischen Verb für „vorwärts, weiter; von - weg“ ab (Drosdowski & Grebe, 1963) bedeutete ursprünglich „entfernt“, später „unbekannt, unvertraut“.

2.1.1        Fremdeln

Der Begründer der vergleichenden Verhaltensforschung, Eibl-Eibesfeldt, meinte: „Fremdenscheu hat kulturunabhängig jeder - zu Fremdenhass wird erzogen.“[2] Aus einem verantwortungsethischen Blickwinkeln neigen Menschen von ihrer Anlage her zur Xenophobie (Ott, 2016). Nach Ott habe das Bildungssystem die Aufgabe, xenophoben Tendenzen entgegenzuwirken.

2.1.2        Der Fremde

Foucault sieht in den religiös flankierten Ausschlussregeln für Leprakranke im 6. Jahrhundert die Vorläufer zur Entwicklung des Begriffs des Monsters, dem auch viele psychische Spielarten unterworfen wurden. Durch den rituellen und tatsächlichen Ausschluss der Leprakranken sei es zur Bildung zweier einander fremder Massen gekommen (Foucault, 2013 3.)[3].

2.1.3        Entfremdung

Kern aller Entfremdung ist begrifflich eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“, nämlich ein mangelndes, gestörtes Verhältnis zu dem Verhältnis, in dem als Kooperation oder als Selbstbezug die eigentliche Natur des Menschen besteht  (Jaeggi, 2005).

Führt eine Entwicklungslinie von der Erfahrung nicht mehr über sich verfügen zu können, sozusagen ein fremdes Leben zu führen, zur Projektion des eigenen Fremden im fremden Anderen?

Wolf hat Tribalismus und Emotionalisierung als wesentliche Faktoren für die Entwicklung von Bürgern, die zur offenen Deliberation[4] nicht mehr fähig seien, bezeichnet.

Der Duden definiert den Tribalismus als „stärkeres Orientiertsein des kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins auf den eigenen Stamm in afrikanischen Staaten“[5].

3         Soziologische Konstruktionen

Stichweh[6] hat darauf hingewiesen, dass der Soziologe sich mit dem Fremden identifiziert, gleichsam wie ein Fremder die Gesellschaft zugleich von innen und von außen zu beobachten versucht (Stichweh, 2010).

Seit der Begründung der Wissenschaft durch Humboldt ist ein Teil der Idee der Moderne die Vorstellung von der psychischen Einheit der Menschheit. Stichweh weist auf entsprechende Vorstellungen auch bei Herder und Rousseau hin.

3.1       Elementargedanken und Völkergedanken

Adolf Bastian (1826-1905) postulierte aufgrund seiner ethnologischen Forschungsreisen die Universalien von „Elementargedanken“ die sich in den geographischen Regionen als „Völkergedanken“ manifestierten.

Die Idee der Universalien findet sich auch in C.G. Jungs (1875-1961) Vorstellung vom kollektiven Unbewussten wieder.

3.2       Koevolution von Psyche und Gesellschaft

Talcott Parsons (1902-1979) postulierte die Theorie einer Koevolution von Verhaltensorganismus, psychischem System, Gesellschaft und Kultur auf der Basis eines einheitlichen Ursprungs (Stichweh, 2010).

Diese Konzeption erscheinen interessant unter anderem weil sie daran erinnert wie psychiatrische Norm und psychische Störung definiert worden sind.

3.3       Intuitive Überzeugungen (beliefs)

Stichweh sieht die Prädominanz des Nichtrationalen in der Evolution humaner Sozialsysteme in Dan Sperbers[7] Theorien. Sperber geht von der psychischen Einheit der Menschheit aus, die man an den Weisen des Schlussfolgern und Wahrnehmens erkennen würde, die relativ  kulturunspezifisch seien und die deshalb in allen Kulturen als rational erscheinen würden. Die so gebildeten Überzeugungen (beliefs) nennt er intuitive Überzeugungen. Es brauche keine Argumentation, dass man sie akzeptiere. Menschliches Denken sei aber charakteristisch, dass ihm zusätzlich eine metarepräsentationale  Fähigkeit eigen sei, d.h. sie können Überzeugungen bilden die sich auf andere Überzeugungen beziehen. Dieser 2. Typus von Überzeugungen lasse Überzeugungen zu, die andere Überzeugungen für falsch oder unwahrscheinlich halten, d.h. sie etablierten die Möglichkeit des Zweifels oder des Unglaubens. Zweitens erlaubten sie die Repräsentation von Vorstellungen die man vorläufig noch nicht verstehe und drittens könnten sie auch rätselhafte Vorstellungen werden, die nie aufgeklärt würden, sich aber in der Vorstellungswelt festsetzten (Stichweh, 2010). Von außen betrachtet erscheinen diese beliefs als nichtrational, aber es seien gerade diese nichtrationalen beliefs, die die soziokulturelle Identität des entsprechenden sozialen Bezugssystems am stärksten bestimmen.

3.4       Religion „natürlich“, Wissenschaft unwahrscheinlich

 Stichweh verweist weiter auf die evolutionären Theorien der Religion von Pascal Boyer[8], dass  Religion „natürlicher“ als Wissenschaft sei. Boyer bezieht sich dabei auf experimentalpsychologische Bestätigungen wie: 1. Konsensuseffekte, also dem Phänomen, dass Personen ihre Wahrnehmungen einer Situation an die Wahrnehmung einer Person anpassen, 2. falsche Konsensuseffekte, also die von Personen gegen die Überzeugung, dass ihre Einschätzung einer Situation geteilt wird, unabhängig davon, ob dies tatsächlich der Fall sein, 3. dass man eigen erzeugte Information stabiler zu glauben geneigt ist, als für die von anderen erzeugten, 4. Gedächtnisillusionen,  5. Zurechnungsirrtümer, 6. Kognitive biases, 7. nachträgliche Anpassung von Erinnerungen an gegenwärtige Erfahrungen.

3.5       Resonanz; Hartmut Rosa *1965

Rosa hat unter dem Begriff der Resonanz eine Soziologie der Weltbeziehung vorgelegt (Rosa, 2016).

Eine seiner zentralen Thesen lautet: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.“ Das Gegenmittel zur „Entfremdung“ sei die  „Resonanzerfahrungen“.

Rosa meint: „Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich der Resonanzbegriff als Metapher zur Beschreibung von Beziehungsqualitäten in hohem Maße eignet und dass er ein enormes Anregungspotenzial für die Untersuchung von Weltverhältnissen auf nahezu allen Feldern des menschlichen Lebens entfaltet.“ Resonanz sei ein „sozialphilosophischer Grundbegriff“, eine „sozialwissenschaftliche Analysekategorie“.

Dieter Thomä hat das Werk kritisiert[9]: Das Bild von den sich annähernden zwei Stimmgabeln funktioniere nur, wenn die genau gleich gestimmt seien. William Connolly habe vorgeschlagen den  Kapitalismus mit seiner nivellierenden Wirkung als riesige „Resonanzmaschine" zu beschreiben. Statt Resonanz gehe es um Responsivität, Digression[10] und Transgression[11].

In einem Spiegel Online Interview[12] zeigt sich Rosa engagiert: „Resonanz ist die Grundsehnsucht nach einer Welt, die einem antwortet.“ ... „Häufig werden solche Momente des Aufgehens als Heimat verklärt, die man gefunden hat.“ ... „Reden Sie mal mit Obdachlosen. Die sagen ganz häufig, das Schlimmste ist nicht, dass sie kein Geld kriegen von Leuten. Sondern, dass sie nicht wahrgenommen werden. Dass Ihnen Resonanz verweigert wird.“ ... „Achtsamkeit und so. Ein Lebensgefühl, das von Zeitschriften wie "Flow" und "Happiness" zelebriert wird. Als Wissenschaftler sollte man sich davon fernhalten.“

Rosa sieht Fremdheit als Weltbezug wie folgt (Rosa, 2016):

„Ein Weltverhältnis, das keine Störungen und Unterbrechungen, keine Begegnungen mit dem Fremden und Unvertrauten, keine Phasen des Fremdwerdens von Selbst und Welt kennte und zuließe, wäre, ...  nicht nur tendenziell flach und, im  Verdrängen alles Nichtidentischen oder Nichtharmonischen, zugleich potenziell totalitär, sondern es verwandelte sich am Ende und unter der Hand in ein stummes Weltverhältnis, weil die Welt ihr Unverfügbares, ihre eigene Stimme und damit ihrer Antwortqualität verlöre – und das Subjekt seine Fähigkeit zur Anverwandlung des Fremden, in deren Verlauf es sich selbst verwandelt.“ (S.59).

Rosa wagt sich auch psychiatrische Diagnosen zu definieren: „Depression/Burnout heißt der Zustand, in dem alle Resonanzachsen stumm und taub geworden sind. Man  „hat“ beispielsweise Familie, Arbeit, Verein, Religion etc., aber sie sagen einem nichts: Es findet keine Berührung mehr statt, das Subjekt wird nicht mehr affiziert und erfährt keine Selbstwirksamkeit. Welt und Subjekt erscheinen deshalb gleichermaßen als bleich, tot und leer.“ (S.316)

3.6       Singularitäten; Andreas Reckwitz *1970

Reckwitz meint: „Was immer mehr erwartet wird, ist nicht das Allgemeine, sondern das Besondere“ (Reckwitz, 2017). Die spätmoderne Ökonomie sei mehr und mehr ausgerichtet auf Güter, die nicht mehr rein funktional, sondern auch oder allein kulturell konnotiert seien und affektive  Anziehungskraft ausübten. Diesem „kulturellen Kapitalismus“ scheinen Großgruppen und menschliche Massen definitionsgemäß fremd. Der Singularisierung sei zentral das komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die gesellschaftliche Erwartung geworden sei. Im Modus der Singularität werde das Leben nicht einfach gelebt, es werde kuratiert[13].

Wer da nicht mitkomme, setze  „auf das Eigene, das Traditionelle und Heimische, um sich gegen die Abwertung des Provinziellen und Konformen zu wehren.“ [14]

Das Fremde könnte demnach eine spezifische Attraktivitätsmarke sein, die jedoch gerade wegen ihrer Fremdheit schwer zu handeln ist. Die Formel „Wir schaffen das!“ kann im Sinne von Reckwitz als Ausdruck des spätmodernen innovationsorientierten Wettbewerbsstaates gesehen werden, zugleich werde hier Kultur als Ressource der Vielfalt zum Gegenstand der staatlichen Steuerung.

3.7       Heimat

Stefan Berg hat in einem Spiegel-Artikel[15] darauf aufmerksam gemacht, dass das Fach Heimatkunde bis 1989 in der ehemaligen DDR noch unterrichtet wurde. In der BRD war das Fach nach den 68er Jahren allmählich verschwunden. „Ankommen“ ist nicht nur für die Ostdeutschen in Deutschland sondern auch die Westdeutschen ein Thema. Im Osten hätten die Leute unter kollektiver Mangelerfahrung gelitten, im Westen unter mangelnder Kollektiverfahrung. Vielen ist nicht bewusst, dass Suchmaschinen wie Google uns kollektive Erfahrungen vermitteln[16].

4         Psychotherapeutische Rahmen

4.1       Das Thomas-Theorem

1928 formulierten William I. Thomas[17] und Dorothy S. Thomas[18] in ihrem Buch The child in America (Knopf, New York 1928): „Wenn die Menschen eine Situation als wirklich definieren, dann ist sie ihren Auswirkungen nach wirklich.“

In jüngster Zeit wurde im politischen Diskurs diskutiert inwieweit Gefühle Wirklichkeiten darstellen bzw. Gefühle nicht wesentlichere Wirklichkeiten als Fakten darstellen; man hat diese Betrachtungsweise als postfaktisch bezeichnet.

4.2       Mentalisieren und Rahmen-Analysen

„Zu mentalisieren bedeutet, eigene und fremde mentale Zustände zu beachten, zu beobachten und zu berücksichtigen und überdies zu versuchen, eigene Handlungsweisen ebenso wie das Verhalten anderer Menschen mit Blick auf zugrunde liegende intentionale innere Zustände zu verstehen.“, schreiben Bateman und Fonagy in ihrem Handbuch (Bateman & Fonagy, 2015) Und weiter: „Ohne dass Mentalisieren kann es kein stabiles Selbstgefühl geben, keine konstruktive soziale Interaktion, keine Wechselseitigkeit und Gemeinsamkeit in Beziehungen und kein Gefühl der persönlichen Sicherheit.“

Das multidimensionale Konstrukt Mentalisieren umfasst sowohl die Erkenntnis des Selbst als auch die des Anderen, integriert Kognition und Affekt und beinhaltet darüber hinaus eine Dimension expliziter und impliziter Interpretation (Taubner & Volkert, 2017). Resch und Seiffge-Krenke formulieren im Vorwort zu dem Band von Taubner und Volkert: „Das Konzept der Mentalisierung ... (macht) ... die imaginative Fähigkeit, sich in andere (und eigene) Motive und Handlungsgründe hinein zu versetzen, als Entwicklungserrungenschaft des Menschen erkennbar.“ Aspekte der Mentalisierungsfähigkeit seien auch Teil der psychischen Struktur: zum Beispiel die Wahrnehmung der eigenen Innenwelt oder die Wahrnehmungsfähigkeit für die Gedanken und Gefühle anderer. Störungen der Mentalisierung könnten bis zu einem „fremden Selbst“ führen.

4.3       Empathie

Um 1770, zurzeit von Sturm und Drang, werden zwei Konzeptionen prominent das Mitgefühl (Mitleid und Sympathie) und dass „Ich“. Die Bedingung der Möglichkeit von Mitleid ist die Ähnlichkeit. Im Gegenüber entwickelte sich in der Literatur der Einsatz des Ich als Blockade von zu viel Ähnlichkeit zu viel Mitleid, also der Etablierung eines Steuerungsmechanismen von Empathie (Breithaupt, 2009).

Sprachwissenschaftler weisen darauf hin, dass der englische Begriff „empathy“ als Übersetzung der deutschen „Einfühlung“ 1909 von Titchener erfunden wurde (Breithaupt, 2017).  Der Germanist Breithaupt hat ein Buch vorgelegt „von den scheinbar unmenschlichen Dingen, die wir tun oder empfinden, nicht obwohl, sondern gerade weil wir Empathie haben“. Konkret meint er: „feindliche Verhärtungen bis hin zum Terrorismus, verschiedene Formen der Ausbeutung inklusive des Vampirismus, schikanieren und Sadismus, aber auch falsches Mitleid und fortdauernde Unterdrückung gehören zum Spektrum des durch Empathie ermöglichten Verhaltens“. Das Denken in Gut und Böse assoziiert er mit empathischem Mitempfinden des Leidens. In einem 3-Personen- Modell der Empathie stellt er dar wie der Beobachter eines Konflikts seine Parteinahme durch Empathie radikalisiert, was häufig Grundlagen von Moralisierungstendenzen sind die durch Fiktionen (Muster der politischen Gerechtigkeit) verschärft werden können.

Der Molekularbiologe und buddhistische Mönch Matthieu Ricard postuliert: nur Empathie nutzt sich ab, Mitgefühl nicht. Die neuronalen Netzwerke des Mitgefühls unterschieden sich sehr von denen der Empathie (Ricard, 2017 2.).

Wodurch unterscheidet sich die Empathie des Psychotherapeutx von der Empathie einer Helikoptermutter oder der Empathie des Sadisten?

5         Quellen

Andersch, N. (2018). Der Psychiater und Psychoanalytiker Alfred Lorenzer (1922-2002) Vordenker symboltheoretischer Pathologie. In A. Karenberg, & K. Haack, Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde Bd. 24 (S. 229-250). Würzburg: Königshausen und Neumann.

Bateman, A. M., & Fonagy, P. (2015). Handbuch Mentalisieren. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Breithaupt, F. (2017). Die dunklen Seiten der Empathie. Berlin: Suhrkamp.

Breithaupt, F. (2009). Kulturen der Empathie. Frankfurt: Suhrkamp.

Drosdowski, G., & Grebe, P. (1963). Duden. Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim, Wien, Zürich: Bibliographisches Institut.

Foucault, M. (2013 3.). Die Anormalen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Goffman, E. (2016, 9. orig. 1974). Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hettlage, R. (2007, 5.). Erving Goffman (1922-1982). In D. Kaesler, Klassiker der Soziologie 2. Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens (S. 197-215). München: C.H. Beck.

Jaeggi, R. (2005). Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Campus: Frankfurt.

Ott, K. (2016). Zuwanderung und Moral. Stuttgart: Reclam.

Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.

Ricard, M. (2017 2.). Allumfassende Nächstenliebe. Altruismus - die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Hamburg: Edition Blumenau.

Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.

Stichweh, R. (2010). Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte. Berlin: Suhrkamp.

Taubner, S., & Volkert, J. (2017). Mentalisierungsbasierte Therapie für Adoleszente (MBT-A). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Dr.med. Jürgen Junglas, Dipl.-Psychologe
Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie
53757 Sankt Augustin, www.dr-jjunglas.de

 

[1] 1899-1959

[2] Dobel S (2018) Den Ursprüngen menschlichen Verhaltens auf der Spur. General-Anzeiger Bonn 4.6.18

[3] S.63

[4] Das lateinische Deliberatio bedeutete „Beratschlagung, Betrachtung, das Bedenken“; Wikipedia Abruf 15.11.2017

[5] https://www.duden.de/rechtschreibung/Tribalismus; Abruf 15. 11. 17

[6] *1951

[7] *1942, siehe auch: https://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article106235442/Wir-sind-einander-sehr-nahe-gewesen.html

[8] Siehe auch: https://www.zeit.de/2009/01/N-Essay-Religion;  Pascal Boyer: Was ist der Mensch? Das Hirn, dein Gott. In: Die Zeit, Nr. 1/2009 vom 23. Dezember 2008. 

[9] https://www.zeit.de/2016/26/hartmut-rosa-resonanz-sachbuch

[10] lateinisch digressio „Abweichung“ oder Abschweifung

[11] lateinisch transgressio, „Übergang“, „Überschreiten“

[12] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/resonanz-statt-beschleunigung-hartmut-rosas-gegenentwurf-a-1082402.html

[13] zugrunde liegt lateinisch curare „sorgen für, sich kümmern um“

[14] Siehe auch: http://www.deutschlandfunkkultur.de/andreas-reckwitz-die-gesellschaft-der-singularitaeten-das.950.de.html?dram:article_id=398909; 23.10.17, Simone Miller

[15] Berg S: Ankommen. Der Spiegel 46/2017, 52

[16] Ist Google rassistisch, Frau Jaume-Palasi?, Der Spiegel 46/2017,58

[17] 1863-1947

[18] 1899-1977